35 Jahre Hügelhäuser Marl 1968-2003
Philosophie und Baugeschichte
1. ) Zur Philosophie der Marler Hügelhaus-Idee
Die Mitte des vergangenen Jahrhunderts aufstrebende Stadt Marl versuchte mit dem Wohnprojekt "Hügelhaus" einen innovativen städtebaulichen Akzent zu setzen. Zweifellos spielte bei den Bemühungen um den Wohnungsbau in Marl Kostensenkungsüberlegungen eine sehr wesentliche Rolle. Dies hat der
Aufsichtsratsvorsitzer des Neuen Marler Baugesellschaft m.b.H., Bürgermeister der Stadt Marl Dr. Ernst Immel, in seinem Geleitwort zur Informationsschrift über den "Wohnhügel Marl/West." ausdrücklich betont.
Im Bemühen, die Stadt Marl für den erwarteten Einwohnerzuwachs attraktiv zu gestalten suchte man nach Möglichkeiten, dies zu realisieren. Die zunehmende Verteuerung des Baulandes, die expandierende Motorisierung, das steigende Verlangen nach mehr Wohnkomfort waren schließlich die ausschlaggebenden Motive, neue Perspektiven des Wohnungsbaus auszuforschen.
In der Auseinandersetzung mit den Problemen des Städte- und Wohnungsbaues entwickelte seit 1959 das Architektenteam Roland Frey und Hermann Schröder einen Wohnhaustypus, der die erstarrte Front des Wohnungsbaus wieder in Bewegung bringen sollte.
Hermann Schröder berichtet in der Informationsbroschüre der Neuma ( s.o.), dass nicht romantische Vorstellungen zur Idee des Wohnhügel führten. Die Erkenntnis, dass die meisten der neuen Wohngebiete den Anforderungen, die an sie zu stellen sind, nicht gerecht werden, leitete die Arbeit an diesem Projekt.
Erstmals wurde der Wohnhügel beim städtebaulichen Wettbewerb für die Nordweststadt Frankfurt 1959 vorgestellt. Erst nach weiteren erfolglosen Wettbewerbsteilnahmen konnte diese Wohnform im Wettbewerb "Stuttgart Neugereut 1963" mit einem 1.Preis ausgezeichnet werden. Der 1965 verstorbene Bürgermeister Rudi Heiland (MdB) sah in dem Projekt nach dem Rathausbau einen weiteren Schwerpunkt moderner Marler Architektur.
Die Neue Marler Baugesellschaft m.b.H. wagte dieses Vorhaben. In einem Papier heißt es: "Unter Voraussetzung des Leitmotivs ‚Deutschlands unbewältigte Bauvergangenheit' sind wir der Meinung, daß der Wohnungs- und Städtebau eine Situation erreicht hat, die zur Entscheidung zwingt; und zwar entweder Sprung in das kommende Jahrzehnt zu wagen oder Stillstand bzw. ideenlose, gleichförmige und sterile Zerbauung der deutschen Landschaft in Kauf zu nehmen."
Und weiter: "Wir hier in Marl haben uns bereits seit längerer Zeit für das erste entschieden und uns 1963 entschlossen, dem 1959 ( ?? d.Verf.) ausgezeichneten Wohnhügel-Entwurf eines Stuttgarter Architektenteams hier in Marl zu verwirklichen. Es ist also kein Zufall, daß das erste Hügelhaus Europas in Marl erstellt wird. Marl hat einen Ruf in der Bauwelt als avantgardistische Gemeinde zu vertreten und wir wollen mit dem Hügelhaus die experimentellen Versuche fortführen, die mit der INSEL, der Paracelsus-Klinik und dem Rathaus-Bau begannen. ... Von der ersten Skizze und dem ersten Modell bis zum Baubeginn - März 1966- war es ein weiter Weg, auf dem sich harte Gegensätze gegenüberstanden und Vorurteile zu beseitigen waren, und zwar das Umsetzen und Einfügen der Gedanken in gesetzlich vertretbare Bauformen sowie die Einordnung der theoretischen Ergebnisse mit den praktischen Erfahrungswerten und das Einpassen dieser Fakten in die ganz nüchternen Zahlen der Finanzierung und des endgültigen Verkaufspreises je Wohnung.
Eine weitere große Schwierigkeit ergab sich durch die starren baupolizeilichen Bestimmungen, die nach unserer Meinung unbedingt modernisiert bzw. den sich gewandelten Wohnverhältnissen angepasst werden müssten."
Die magische Kraft des Neuen schlug die Marler Entscheidungsträger in ihren Bann und mit Eifer wurde trotz mancher Hindernisse das Werk in Angriff genommen.
2.) Baugeschichte und Baubeschreibung
Entwurf: Architekten Roland Frey, Hermann Schröder, Claus Schmidt, Stuttgart.
Ausführung: Architekten Peter Faller, Hermann Schröder, Stuttgart
Technische Beratung: Architekt BDA Hans Hansen, Marl, Ing.-Büro Soll, Statik, Marl.
Bauherr: Neue Marler Baugesellschaft m.b.H., Marl i.W. (Neuma ), Langehegge 196, Geschäftsführer: Rudolf Hoffrichter, Hansgünter Neuendorf
Die Grundsteinlegung erfolgte am 15. September 1965 an der Brüderstraße 60 durch Bürgermeister Dr. Immel und Amtsdirektor Oehler. Außerdem waren anwesend Amtsbürgermeister Ulrich, von der Neuma die Geschäftsführer Hoffrichter und Neuendorf sowie Repräsentanten der Ausschüsse und Stadt- und Amtsverwaltung. Ein Modell des Hauses stand zur Verfügung. Die Presse nahm von der Grundsteinlegung rege Notiz.
Die Marler Zeitung (kw):berichtete:
"Neuma-Geschäftsführer Hoffrichter, der unter den Gästen den Repräsentanten der Westdeutschen Bauvereinsbank begrüßte, teilte mit, die Neuma werde das Bauvorhaben vorfinanzieren. Wichtig sei es gewesen, den Endpreis für die Eigentumswohnungen zu ermitteln, woran ein Team von Fachleuten und die Amtsverwaltung mitgearbeitet habe. Die Herstellungskosten von 800 DM pro Quadratmeter Wohnfläche ( gegenüber 1200 DM bei herkömmlichen Eigenheimbau ) wurde von ihm als günstig bezeichnet. Hoffrichter äußerte die Hoffnung, dass für das Experiment in Marl Forschungsmittel zur Verfügung gestellt werden, damit die Wohnungen auch für "mittlere und untere Personenkreise" erschwinglich werden. Auf Einzelheiten der künftigen Wohnzimmer eingehend meinte er, sie würden "ein ganz neues Wohngefühl" vermitteln. Erläuterungen gaben außerdem der Stuttgarter Architekt Hermann Schröder und Beigeordneter Amtsbaurat Dr. Wiese, der auf das Interesse hinwies, welches das Marler Projekt in Bonn und Düsseldorf erregt hat und daran ebenfalls die Hoffnung knüpfte, dass das Land Nordrhein-Westfalen seine Unterstützung nicht versagen werde."
Zur Grundsteinlegung waren alle Beteiligten voller Optimismus mit diesem Vorhaben, ja es schien sogar eine Art "Pioniergeist" seitens der Stadt, der Neuma und auch der lokalen Medien aufzuscheinen.
Richtfest wurde am 1. März 1967 gefeiert. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung WAZ berichtete am 2. März. 1967:
Ein kurzes Begrüßungswort durch Neuma-Geschäftsführer Hoffrichter, 23 schnell geführte Hammerschläge des Aufsichtsratsvorsitzenden Dr. Ernst Immel auf den letzten Nagel in das fertige Gebälk des Dachstuhls und ein zünftiger Zimmermannsspruch bildete die kurzgefasste Zeitfolge des Richtfestes für den Wohnhügel an der Brüderstraße, der Marl noch einmal als Experimentierfeld von Pionierleistungen auf dem Bausektor bekannt macht. Der betont unfeierliche Festakt bescherte den Bauarbeitern auch keinen Richtschmaus. Sie kassierten dafür einen finanziellen Ausgleich.
Auch zur Preisgestaltung wurde berichtet:
Es... werden die kleinsten Typen der Eigentumswohnungen mit 67,17 Quadratmetern zu 61 300 DM, die größten mit 118,88 qm Wohn- und 78 qm Terrassenfläche zu 115 900 DM angeboten. Dabei wird in den meisten Fällen von der Neuma eine eingehende Beratung für den jeweils individuellen Fall als notwendig ansieht, ein Eigenkapital von 25 v. H. der Erwerbssumme als erforderlich angesehen. ..
Mit der Vergabe der Wohnungen wurde begonnen.
Als Fertigstellungstermin war der 13. Oktober 1967 festgelegt worden.
Gesamtkosten: ca. 3, 8 Mio DM, qm-Kaufpreis: um 800 DM.
Verbunden mit einer Pressekonferenz am 13. Oktober hatte die Neuma "Tage der offenen Tür" eingerichtet, um potenziellen Käufern "Ein- und Ausblick" zu gewähren.
Anlässlich der Fertigstellung berichtete Rudolf Hoffrichter von dem sehr regen Interesse der Medien. Bürgermeister Dr. Ernst Immel lobte das Interesse der Öffentlichkeit, das größer war als seinerzeit beim Rathausbau. Es hatten rund 300 Zeitungen und Fachzeitschriften über das Hügelhaus in Wort und Bild berichtet. Ausländische Fachleute studierten an Ort und Stelle diesen neuen Bautyp.
Die Neuma erklärte, noch drei weitere Hügelhäuser in Marl zu errichten. Das erste und zweite auf der Basis des Eigentum-Wohnungsbaus und das dritte mit Mietwohnungen.
Aus der Baubeschreibung der Neuma:
Es wurde ein Haustyp mit prismatischem Querschnitt entwickelt: Der "Wohnhügel".
Das Gebäude ist als Baukörper nord-süd gerichtet, die Wohnungen sind terrassenförmig so angelegt, dass ihre L-förmigen Grundrisse große, offene Wohnterrassen umschließen. Diese bilden ein Äquivalent für den Garten des Einfamilienhauses bilden. Unter oder im Inneren ist für jede Wohnung ein Autoabstellplatz vorgesehen.
Die Vorteile der Wohnungen in Hügelform:
Jede Wohnung besitzt einen größeren Freiraum, die Wohnterrasse, die von den
Blicken
der Nachbarn geschützt liegt.
Die offene Terrasse erlaubt es den Bewohnern, am Geschehen der Jahreszeiten
teilzuhaben. Blumen können unter offenem Himmel wachsen.
Hier können Kinder spielen, kann Wäsche getrocknet werden.
Alle Fenster sind bequem von außen zu reinigen.
Kinder können nicht aus dem Fenster fallen.
Auch bei hohen Bauten entsteht kein beängstigendes Höhengefühl.
Jede Wohnung hat direkte Südsonne im Wohnraum.
Jede Wohnung besitzt einen Wagenabstellplatz im Hause.
Richtige Mischung von Wohnungsgrößen innerhalb eines Hauses ist
gewährleistet.
Ein Wohnungswechsel bei Veränderung der Familiengröße ist dadurch in de
gewohnten Umgebung möglich.
Das Gelände zwischen den Bauten ist infolge der prismatischen Form der
Baukörper gut besonnt. Es kann als Gartenland der Wohnungen im
Erdgeschoss intensiv genutzt werden.
Der erste Bau eines solchen Wohnhügels in der Bundesrepublik, stellt einen Versuchsbau dar, an dem die Möglichkeiten dieser Wohnform und ihre Weiterentwicklung erprobt werden sollen.
Der Bau ist viergeschossig und besitzt auf der Ostseite 4 Treppenhäuser. Die Wageneinstellplätze liegen im Untergeschoss; sie werden von der Straße über eine Rampe an der Nordseite des Baues erreicht. Basisbreite des Gebäudes 45 m, Länge 88 m. An den beiden Erdgeschossen sind Wohnungen untergebracht, die in ihrem Zuschnitt und ihrem Charakter die gleichen Eigenschaften wie die eines eingeschossigen Kettenhauses besitzen. Sie sind in Größe und Zuschnitt variabel. Den Wohnungen sind Gärten zugeordnet, in die der Nachbar nur ihren äußeren Teil einsehen kann.
Verfügbar wurden 46 Wohneinheiten:
8 Zweizimmerwohnungen von 74 bis 77 qm
18 Dreizimmerwohnungen, von 76 bis 96 qm
16 Vierzimmerwohnungen von 108 bis 125 qm
4 Fünfzimmerwohnungen von 126 bis 137 qm
3.) Der Wohnhügel in der öffentlichen Diskussion
Das außergewöhnliche Bauvorhaben hatte eine bemerkenswert breite öffentliche Diskussion ausgelöst.
Die Genehmigungsverfahren bei den einschlägigen Ämtern verursachten angesichts der Neuartigkeit der Architektur immer wieder Hemmnisse.
Die Bauabwicklung war gekennzeichnet von Abstimmungsproblemen zwischen den Gewerken aufgrund der "hügelspezifischen" Erfordernisse, da einschlägige Erfahrungen fehlten.
So berichtete die WAZ am 4. Oktober 1967 (AdH) im Zusammenhang mit der Fertigstellung des Wohnhügel 1 z.B. über die ungenügende Berücksichtigung des Verkehrsbandes 9. Dies habe dazugeführt, dass die im Bau befindliche Eisenbahnlinie Haltern-Buer demnächst in unmittelbarer Nähe des Hügelhauses vorbeiführt. Die Absichten der Bundesbahn waren beim Planungsbeginn für die Hügelhäuser noch längst nicht ausgegoren. Dies mag, so die WAZ, mit ein Grund sein, warum die Wohnungen erst zum Teil an Interessenten verkauft worden seien. Viele fürchteten nämlich Lärmbelästigungen, obwohl der Verkehr auf dieser neuen Eisenbahnlinie kaum jemals eine Dichte erreichen wird, die Befürchtungen dieser Art rechtfertigen würden.
Der angesichts der schon seit ca. 1927 festliegenden Trasse des Verkehrsbandes 9 ungünstig gewählte Standort des Hügelhauses hat jedoch noch andere Folgen, "die Marl einen hübschen Batzen Geld kosten dürften." So nähme nämlich das Verkehrsband 9 der Stadt die Möglichkeit, Wasserleitung und Abwasserkanal auf dem direkten Wege über die Brüderstraße an das städtische Netz anzuschließen. Die Entwässerung muss
vielmehr über eine sogenannte Druckleitung erfolgen, die unter die etwa zehn Meter tiefe Eisenbahntrasse hindurchgeführt werden muss.
Auf Umwegen erfolgt auch die Wasserversorgung. Um sich dabei Druckstationen zu sparen, wird ( zur Zeit ) eine Ringleitung gebaut, die über Brüderstraße und Kreuzstraße zur Hochstraße führt und dort an das vorhandene Netz angeschlossen wird.
Die Buersche Zeitung vom 16.Oktober 1967 titelt "Nur wenige wollen im Hügelhaus wohnen - Experiment in Marl stößt auf geringes Interesse" da erst der Verkauf von 16 Wohnungen zur Fertigstellung notariell beurkundet sei. Dafür verantwortlich war aber auch die Kürzung der öffentlichen Mittel, die zur Zeit der Grundsteinlegung im Herbst 1965 noch großzügiger ausgestattet waren.
Aus der Diskussion zum Hügelhause wurde auch erkennbar, dass die Kaufinteressenten Probleme mit den Grundrissen hatten im Hinblick auf die erforderliche unkonventionelle Möblierung: Die Dachschrägen schienen vielen problematisch.
So ließ die Neuma vier Musterwohnungen mit Hilfe Marler Möbelhäuser und der Marler Innenarchitektin Elke Pumpe-Krüger angemessen und zeitgemäß ausstatten. Die Marler hatten bis zum 29.Oktober täglich Gelegenheit zur Besichtigung. Die WAZ, berichtete am 17.Oktober, wie auch viele andere Tageszeitungen, dass die Neuma für die Besichtigung der nun mit Möbeln ausgestatteten Musterwohnungen 50 Pfennig Eintritt nimmt, um einen Gegenwert für die Abnutzung von Möbeln und Wohnungen. zu erhalten!
Um 20 000 Besucher waren am Wochenende zum Schauen gekommen.
Überwiegend berichteten die Medien jedoch positiv über den Wohnhügel, motiviert durch diese atypische Wohnarchitektur in einer Stadt, die Mitte des 20. Jahrhunderts einen starken Aufschwung erlebte.
Zum Zeitpunkt der Fertigstellung des 1.Hügels im Oktober 1967 lagen bereits über 300 Veröffentlichungen aus der Tages- und Fachpresse vor. Fachleute aus dem In-und Ausland studierten das Objekt.
Im Jahre 1970 übte eine 40köpfige Delegation Studierender an der Ingenieurschule für Bauwesen Köln eine sehr ausgeprägte Kritik am Marler Hügelhaus.
Der Mitarbeiter des Presseamtes, Moritz Grän, fand am 3.November einen mehrseitigen vervielfältigten Schriftsatz. Dieser war, nach Gräns handschriftlicher Anmerkung, nach dem Besuch der Gruppe im Rathaus offensichtlich kommentarlos liegengelassen worden.. Moritz Grän übergab das Papier dem Leiter des Presseamtes, Dr. Marquardt.
Der Schriftsatz mit dem Titel "Das Projekt ‚Zukunftsstadt' oder das sogenannte ‚Hügelhaus' in Marl/Westfalen" liegt im Stadtarchiv ( ACC 941944-173 )
Hier die wesentlichen Inhalte des Papiers::
Der oder die Autoren erläutern kurz das Konzept und wie es zum Bau des Hügelhauses kam: "...Doch sehen wir weiter, wie diese Möglichkeit eine menschenwürdige, urbane und auf zukünftige Bedürfnisse ausgerichtete "Stadt" zu schaffen, verwischt, verfälscht und schließlich vollkommen zerstört zum Entstehen einer Wohnanlage führte, die im allgemeinen unter der Bezeichnung "sozialer Wohnungsbau" zur Genüge bekannt ist.
Im Bauauftrag, den 1963 der mittlererweile verstorbene Marler Bürgermeister Rudolf- Ernst Heiland erteilte, schrumpfte das ursprünglich für die (Frankfurter ) Nordweststadt geplante Hügelhaus auf seine heutige Gestalt: 46 Wohnungen in vier Ebenen; im dunklen Kellergeschoß anstelle großzügiger Einkaufsstraßen und Kulturzentren - Parkplätze und Abstellräume.
... Daß das Marler ‚Experiment' in dieser Form ein Bau der Zukunft ist, muß vom städtebaulichen Gesichtspunkt ganz entschieden bestritten werden. Das städtebauliche Konzept ist in Marl nicht mal mehr in den Ansätzen vorhanden. Weder ist das Projekt in die bestehende Bebauung integriert, noch sind die notwendigsten Forderungen die der Bewohner einer Stadt, eben an seine Stadt stellt, erfüllt. Als einzigen fortschrittlichen Gesichtspunkt wäre die Urbanität zu nennen - eine begrenztre Urbanität im Rahmen des sozialen Wohnungsbaues...."
Da die Wohnungen des Marler Wohnhügels verkauft werden und sich auch nach Jahrzehnten noch durch hohen Gebrauchswert verzinsen sollen führen die Kritiker eine ganze Reihe von "Mängeln" auf:
"Lässt sich aber damit z. B. das Fehlen eines Müllschluckers vereinbaren? Die Mülltonnen am Hauseingang sind sicher billiger, mit zukunftweisend hat das nichts zu tun. Das Fehlen eines Fahrstuhls macht die Sache noch schlimmer; das Hinunterschleppen schwerer Mülltonnen in viergeschossigen Häusern ist unangenehm, das Hinaufschlepppen schwerer Einkaufstüten und Kinderwagen nicht minder...
Weiter fehlen: Gemeinschaftswaschraum mit Waschautomaten, elektrisch beheizbare Trockenkammern, benachbarter Bügelraum, großer Gemeinschafts- oder Hobbyraum für sportliche oder spielerische Aktivitäten der Bewohner, eine Sauna, eine Zentrale für kleinere Dienste, von Räumen zur kulturellen Nutzung und zur Kontaktpflege ganz zu schweigen. ( Kindergarten, Jugendcenter, Filmvorführraum usw. )
Kritisiert wird auch, dass "die Grundrisse im Prinzip zuliebe und um die Symmetrie zu wahren einfach vergewaltigt worden sind. Die Entschuldigung, daß die Konstruktion
( Achsmaß 3,80 m ) keine andere Möglichkeit gelassen hat, kann nicht überzeugen.
Die Chance, ein Service-Haus zu schaffen sei vertan worden:
Also nicht nur neue Wohnformen im neuen Gehäuse zu entwickeln, sondern auch Art und Umfang gemeinschaftlich nutzbarer Anlagen vorbildlich zu demonstrieren
Wäre der Marler Hügel ein Experiment gewesen, wäre das zu begrüßen:
- aber wie kann ein Projekt, das aller seiner fortschrittlichen Aspekte beraubt wurde
und daher eher rückschrittlich ist, ein Experiment sein?
- wie kann ein Projekt, das von einer Baugesellschaft, die in erster Linie profitieren
will, gebaut wird, ein Experimentsein?
- kann man von einem Experiment sprechen, wenn bekannte Erfahrungswerte
amerikanischer und skandinavischer Städte, wenn exakte Forschung so beiseite
geschoben werden?
Man kann nicht! Die Konzeption das Marler Hügels muß rundweg abgelehnt werden. Anstelle einer Veränderung bestehender Systeme erreicht er deren Zementierung.
Als Aushängeschild und Wallfahrtsort ‚moderner Stadtplaner' ist er (der Marler
Hügel ) sogar sehr gefährlich. Anstelle kritischer Auseinandersetzung tritt die Erkenntnis: Auch wir haben wesentlich Anteil am Projekt Zukunftsstadt.
Auf Grund dieser Erkenntnis werden weiter ‚soziale Wohnbauten' im urbanen Deckmäntelchen gebaut und von staatlicher Seite gefördert.
Weiter werden unbewohnbare ‚Schlafstätten' geplant und gebaut und - von staatlicher Seite gefördert -. Weiter werden wirtschaftliche und staatliche Interessen Hand in Hand gehen. Weiter wird Staat und Wirtschaft ihren Nutzen aus solchen Projekten ziehen.
Mit Hilfe des Architekten und Stadtplaners als Erfüllungsgehilfe wird dem Bürger von Wirtschaft und Staat ein ‚Zukunftsbild' vorgegaukelt, das in seiner Trostlosgikeit ohne Gleichen ist."
Diese äußerst kritischen Anmerkungen seitens der Kölner Baustudenten sind vor dem Hintergrund der damaligen sicherlich auch weltanschaulich gefärbten Diskussionen zu sehen: So standen soziales Anspruchsdenken und ein gewisser Perfektionismus auch im Segment "Zeitgeist und Architektur" Pate bei diesen Thesen.
Rückblickend aus dem 21.Jahrhundert ist jedoch festzustellen, dass die Marler Entscheidungsträger der 60er Jahre geleitet wurden von dem Gedanken, die damals sich stark entwickelnde und expandierende Stadt Marl durch experimentelle Maßnahmen insbesondere auf dem Feld der Architektur zu profilieren. Dabei blieb es nicht aus, dass aus Erfahrungsmangel bei Planung und Gewerbe sowie auf Grund stadtinterner Querelen sich manche Fehler und Fehlleistungen nachteilig auf die Bürgerschaft im weitesten Sinne auswirkten,
Auf die Hügelhäuser bezogen lässt sich feststellen, dass die Herstellkosten so bemessen wurden, dass die potenziellen Käufer Marls erreicht werden konnten. Fast alle von den Kölner Studenten ins Feld geführten "Mängel" in der Ausstattung hätten nicht durch die Käufer finanziert werden können. Und die Stadt hatte offenbar trotz ihrer visionären Vorstellungen von der Stadtentwicklung keine Experimente fördern wollen.
Die normative Kraft des Faktischen hat indessen bewirkt, dass letztlich der Wohnhügel 1 akzeptiert wurde. Im Nachhinein erkannte Mängel, (z.B. Fahrstühle) und die gemachten Erfahrungen fanden bei den Hügeln 2, 3 und 4 teilweise Berücksichtigung.
Der Hügel 1 wird im Jahre 2003 35 Jahre alt.
Das Ensemble der vier Hügel wurde zum festen Bestandteil des Marler Stadtbildes und hebt sich positiv vom konventionellen Wohnungsbau Marls ab. Auf Besucher und Bewohner wirkt das "Experiment" noch immer attraktiv.
4.) Quellenlage
Eine geschlossene Darstellung des Projektes konnte nicht ermittelt werden. Die Arbeit basiert weitgehend auf folgenden Fundstellen:
Stadtarchiv::
Schriftsätze des Presseamtes, Dokumente u.a.: ACC # 94/1944-173;
die Zeitungsausschnittsammlung ACC # 94/1944-117;
Fotos: Signatur "Hügelhäuser" # f. 01348, f 01630;
Zeitungsausschnittsammlung: ZA 55 ( Neuma ) und ZA 55;
Verwaltungsberichte ( ohne relevanten Befund );
Ratsprotokolle
Archiv des Bauamtes:
Gutachten, amtliche Stellungnahmen, Genehmigungsunterlagen,
Baubeschreibungen mit Wohnungsplänen
In Raum 63 des Rathauses ( Keller) befindet sich das Archiv für Baupläne, Statiken etc.
Die Unterlagen der Hügelhäuser sind in 26 DIN-4 Ordnern vertreten.
Zum Thema ist in erster Linie der 1. Ordner unter dem Titel Schriftverkehr und Gutachten "Kreuzstraße 301/343" relevant. ( Keine Aktenstücksignierung!)
Informative Unterlagen:
Brandschutzgutachten v.8.8.64( Branddirektor a. D. Hans, Köln - Brück
Protokoll einer diesbez. Sitzung am 12.6.65
Bauschein + Auflagen vom 18.5.66
Papier über die städtebauliche Situation
Neuma-Bauantrag vom 27.10.64
Baubeschreibung mit Wohnungsplänen v.6.7.65
Genehmigungsverfahren - Landesbaubehörde Ruhr in Hamm ( IC 2 261,Marl 1964 )
Dispensbeschluss v. 26.7.65 > Begründung der Planung. (Bauliche Anlage besonderer Art) , Sicherheit, Brandschutz
Rohbaukosten (Amtsverwaltung Marl vom 12.5.66, ( 960 000 DM )
Erläuterungsbericht der Freien Architekten Faller und Schröder v. 12.10.65
Umnummerierung des Hügel 1 von Brüderstraße 60 auf Kreuzstraße 301 343 wegen weiterer Planungen mit Wohnungsplan ( Amt an Neuma )
TÜV Papier wegen Garage v. 11.12.68
Aufteilungsplan vom 14.2.72
Informationsbroschüre der Neuma
Wohnhügel Marl/ Westf., Informationsdruckstück herausgegeben von der Neuen Marler Baugesellschaft 1967,ca. 40 S.,
Archiv Marler Zeitung
Marler Zeitung #216 v. 16.9.65
1. Spatenstich.
Bild Modell Hügel 1 ( Pölking )
Bild Spatenstich (kw)
Marler Zeitung #240 v- 14./15. 10. 67,
Eröffnung mit Wohnungsbesichtigung
Bild: Möbl. Wohnung ( Hiltgen)
Bild: Modell mit Immel, Hofrichter, Schröder u.a.
Bilder s/w) ( über B. Aleff )
Hügel 1 im Bau, (dpa)
Hügel 1 - 3 Baustadien, Luftaufnahmen (dpa)
Weitere Aufnahmen Baustadium Hügel 1
Bilder aus Archiv Helmut Madynski
Datei "Hügelhäuser":
01 1967 steht das erste Hügelhaus noch mitten im freien Feld; an der
Bundesbahnstrecke V 9 wird gerade gebaut
02 Nordgiebel des Hügelhauses 1967
03 Nordgiebel des Hügelhauses 1968
04 Hügelhaus in Marl 1968
05 Blick vom Hügelhaus 1 in Richtung zum Rathaus 1968
06 Hügelhaus in Marl 1968
07 Die Hügelhäuser um 1983
08 Die Hügelhäuser 1994
09 Die Hügelhäuser 1994
Autorenschaft noch nicht bekannt
Bilder von Franz Czerwonka
01 Luftaufnahme farbig
02 Hügel 1 mit Zug ca1967
03 Hügel1 von Osten ca1967, aus Informationsdruck
Autorenschaft noch nicht bekannt
Bilder aus dem Presseamt (alt ) der Stadt Marl (über B. Aleff )
Bilder aus dem NEUMA-Archiv (50jähriges Bestehen 2001 ) (über B. Aleff )
Literaturstellen "Hügel"
Deutsche Bauzeitung, 1968,Jahrg.102 S. 252-257: "Der Wohnhügel
in Marl. (Hermann Schröder Peter Faller, Roland Frey )
Der Heimsparer, 1969, S.208-211,, "Der Wohnhügel in Marl"( Richard Kräntzer.)
Bauen und Wohnen, 23/1968, S. 42-46, "Wohnhügel - ein Haustyp in Marl"
(Roland Frey, Hermann Schröder ) Form, 1965, 32 S. 30-33, "Bauexperiment Wohnhügel Marl"
Rundflüge über das alte Marl, Helmut Madynski, Wartberg Verlag,
ISBN 3-8313-1046-7, 1.Aufl. 2001, S. 10 und 14
5.) Anmerkung und Danksagung
Die Erkenntnisse dieser Arbeit resultieren aus den vom Autor eingesehenen Quellen im Jahre 2002/03 und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Fotos, Dokumente Zeitungsausschnitte u.a. sind auf CD-ROM gespeichert.
Zu dem Projekt des Inselkurses "In Stadtgeschichte denken", 2002/2003, haben einschlägige Quellen empfohlen oder bereitgestellt:
Herr Pollberg, Stadtarchiv Marl
Herr Hölker, Archiv des Bauamtes Marl
Herr Biewald, Marler Zeitung
die Herren Boris Aleff, Helmut Madynski, Franz Czerwonka , Kurt Olejniczak.
Ihnen sei sehr herzlich Dank gesagt, diese Arbeit zu ermöglichen.
März 2003
Dr. Juergen Krueger, Marl
Teilnehmer am Kurs "In Stadtgeschichte denken" der Marler Volkshochschule "die insel" 2002/2003
Fußnoten:
1 Stadtarchiv ACC 941944-173, Konzept, ohne Datum und Autornennung, Schreibmaschine
(vermutlich 1966)
² Marler Zeitung MZ v. 16.9.65, Foto: Pölking; s. auch .a. WAZ v. 16.9.65, Kreiszeitung f. d. Grafschaft
Hoyer u.a. v. 22. 10.65
³ Marler Zeitung zum 13. Oktober 1967, dto. WAZ Buersche Zeitung, Ruhrnachten, weitere
Tageszeitungen berichteten über Wochen hin.
4 Stadtarchiv ACC 941944-173
5 Im Bestreben neue Wohnformen zu schaffen plante man multifunktionale "Hügelhäuser" mit Einkaufs-
und Kultureinrichtungen im Inneren der Hügel. Auf der Weltausstellung Montreal 1967 wurden diese
modellhaft vorgestellt (s. Umschau aus Wissenschaft und Technik v. 29.6.67).