Chemiekrise: Region stellt vier Forderungen an Bund und EU

Um Produktion und Jobs zu sichern, verlangt die Emscher-Lippe-Region sofortige Entscheidungen zu Energiepreisen, CO₂-Zertifikaten, und Wasserstoff – und erhöht den Druck auf Berlin und Brüssel.

Die Chemie steht am Scheideweg

„Ohne eine rasche und dauerhaft wirkende Korrektur der Energiepolitik von EU und Bund ist die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Chemieindustrie durch politische Vorgaben massiv beeinträchtigt“, warnte Landrat Bodo Klimpel, Präsidiumsvorsitzender der WiN Emscher-Lippe GmbH. „Hohe Energiekosten und die Vorgaben für CO₂-Emissionen benachteiligen die heimische Chemie im globalen Wettbewerb – so sehr, dass bereits erste Anlagen geschlossen werden“, erklärte Dr. Paul Olbrich, Vorstandsvorsitzender ChemSite e.V. Wenn sich die Situation nicht grundlegend ändere, stehen laut Branchenexperten 40.000 Arbeitsplätze in der Emscher-Lippe-Region auf dem Spiel. Im Chemiepark Marl richteten Stadtspitzen, Vertreter der chemischen Industrie und der Verbände mit einem gemeinsamen Kommuniqué ihre Forderungen an die Politik im Bund und in der EU.

Chemieindustrie ist der bedeutendste industrielle Kern

In der Emscher-Lippe-Region mit 1 Million Menschen in zwölf Städten ist die Chemieindustrie der bedeutendste industrielle Kern, der über gewachsene Verbundstrukturen von Marl über Scholven bis Gladbeck sowie über eine sehr gute Infrastruktur verfügt. „Der Chemiecluster in der Emscher-Lippe-Region ist grundsätzlich robust – wenn nicht wichtige Teile aus dem Verbund herausgebrochen werden“, sagte Dr. Paul Olbrich. Aufgrund von Wettbewerbsnachteilen, der schwachen Nachfrage und der Dumping-Konkurrenz aus China sind bereits mehrere Anlagen in ihrer Wirtschaftlichkeit gefährdet:

  • Der britische INEOS-Konzern wird seine Produktion in Gladbeck schließen und erwägt die Schließung der Butandiol-Produktion (BDO) im Chemiepark Marl.
  • BP hat den Verkauf seines Raffineriestandortes Gelsenkirchen-Scholven angekündigt und will kurzfristig eine Verkaufsvereinbarung abschließen.
  • Die Produktion im Chemiepark Marl ist im Schnitt nur zu zwei Dritteln ausgelastet; neue Investitionsanfragen zielen nur noch selten auf klassische Chemie, sondern vor allem auf Wasserstoff- und Kreislaufwirtschaft.

Dominoeffekte entlang der Wertschöpfungsketten befürchtet

Der enge Verbund im Chemiecluster birgt aber auch Gefahren, weil die Raffinerien und die Chemieindustrie Ausgangspunkte zentraler industrieller Wertschöpfungsketten in der Region sind: „Es besteht die Gefahr von Dominoeffekten, die sich, einmal in Gang gesetzt, nicht aufhalten lassen“, warnte Thomas Wessel, Personalvorstand der Evonik Industries AG. Wessel begrüßte, dass Politik und Industrie auf Landesebene an einem Strang ziehen und sich für eine Standortsicherung der Chemie in NRW stark machen: „Der Chemie- und Raffineriepakt NRW ist ein starkes Signal – jetzt muss die Politik auf Bundes- und EU-Ebene schnell liefern, damit die chemische Industrie auch zukünftig hier produziert, investiert und so gut bezahlte Arbeitsplätze sichern kann.“

Drohende Deindustrialisierung verhindern

Sollte die Situation der Chemie nicht stabilisiert werden können, befürchteten Vertreter der betroffenen Kommunen weitreichende Folgen: „Die Chemie ist das Herz unserer regionalen Wirtschaft. Deshalb setzen wir uns für bessere Wettbewerbsbedingungen ein, um die drohende Deindustrialisierung unserer Region zu verhindern, die bereits lange mit dem Aus des Steinkohlenbergbaus zu kämpfen hatte“, sagte Bodo Klimpel, Landrat des Kreises Recklinghausen.

„Für eine nachhaltige Absicherung des hiesigen Chemiestandortes ist ein ständiger Erneuerungsprozess notwendig. Hier müssen Reformen ansetzen und den Standort sichern. Der Erhalt und die Weiterentwicklung der chemischen Industrie muss auch die Absicherung von Produktionskapazitäten in Krisenzeiten im Blick haben. Auch hier sind die Verflechtungen beispielsweise von BP zum Chemiepark Marl von entscheidender Bedeutung. Die Sicherung des Chemiestandortes im nördlichen Ruhrgebiet hat nationale Bedeutung und erfordert eine umfassende Unterstützung bei der Sicherung der Arbeitsplätze in der Chemie und nachgelagerten Bereichen in der Region“, erklärte Andrea Henze, Oberbürgermeisterin der Stadt Gelsenkirchen.

„Wenn Unternehmen im internationalen Wettbewerb durch politische Energie- und Klimavorgaben ins Hintertreffen geraten, hat das unmittelbare Folgen für Arbeitsplätze, Investitionen und kommunale Einnahmen“, sagte Marls Bürgermeister Thomas Terhorst. „Marl und die Region brauchen eine starke Chemie – und die Chemie braucht faire Bedingungen.“

Die IHK Nord Westfalen befürchtet drastische Veränderungen der industriellen Struktur in der Emscher-Lippe-Region: „Wenn wir nicht zügig alle Hebel zur Reduktion der Energiekosten umlegen, gehen in der Industrie in der Emscher-Lippe-Region bald im wahrsten Sinne des Wortes die Lichter aus“, sagte Dr. Jochen Grütters, stellvertretender Hauptgeschäftsführer und Leiter des Standorts Emscher-Lippe der IHK Nord Westfalen.

„Wir brauchen einen realistisch umsetzbaren Pfad und fordern eine verlängerte Ausgabe kostenloser CO₂-Zertifikate für die Industrie für einen Übergangszeitraum“, sagte Verena Gärtner, Bezirksleiterin des IGBCE-Bezirks Recklinghausen. „Denn eine Deindustrialisierung nutzt weder dem Klimaschutz noch der Innovationsfähigkeit und bedroht Arbeitsplätze, Wertschöpfung und damit Städte und die ganze Region.“

Kommuniqué mit vier Forderungen übergeben

In einem gemeinsamen Kommuniqué richteten die Vertreter von Kommunen, Industrie und Verbänden in der Emscher-Lippe-Region vier konkrete Forderungen an die Politik im Bund und in der Europäischen Union:Damit die Industrie und ihre Wertschöpfungsketten wettbewerbsfähig bleiben, müssen die Energiekosten dringend gesenkt werden: „Wir fordern vor allem die unverzügliche und dauerhafte Einführung des angekündigten Industriestrompreises“, heißt es im Kommuniqué.

  • Damit die Industrie und ihre Wertschöpfungsketten wettbewerbsfähig bleiben, müssen die Energiekosten dringend gesenkt werden: „Wir fordern vor allem die unverzügliche und dauerhafte Einführung des angekündigten Industriestrompreises“, heißt es im Kommuniqué.
  • Gerade die chemische Industrie brauche eine realistische Perspektive für die Entwicklung und Einführung wirtschaftlicher klimaneutraler Produktionstechnologien. Aus diesem Grund fordern die Unterzeichner „eine verlängerte Ausgabe kostenloser CO₂-Zertifikate für die Industrie“ für einen Übergangszeitraum.
  • Bis zum Erreichen einer klimaneutralen Produktion benötige die Chemie Möglichkeiten, CO₂ abzuscheiden und dauerhaft zu speichern: „Wir fordern die Entwicklung von CCS-Technologien und die Schaffung eines rechtlichen Rahmens für Export und Speicherung von CO₂“.
  • Grüner Wasserstoff ist der Schlüssel für die Entwicklung einer klimaneutralen Industrie. „Bis er ausreichend verfügbar ist, fordern wir eine pragmatische Anpassung der Kriterien für kohlenstoffarme Brennstoffe wie Blauer Wasserstoff (LCH), um den Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft nicht zu gefährden“, heißt es im Kommuniqué weiter.

Das Kommuniqué mit den Forderungen wurde am Freitag (21.11.2025) im Feierabendhaus des Chemieparks Marl an die Bundestagsabgeordneten Nicklas Kappe und Lars Ehm übergeben.

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Initiative für eine Wende in der Energiepolitik: Der Präsidiumsvorsitzende der WiN Emscher-Lippe, Landrat Bodo Klimpel (M.), und ChemSite-Vorstandsvorsitzende Dr. Paul Olbrich (2.v.r) übergeben das das Kommuniqué der Kommunen, Industrie und Verbände in der Emscher-Lippe-Region an die Bundestagsabgeordneten Nicklas Kappe MdB (links) und Lars Ehm (r.) - gemeinsam mit den Stadtspitzen, Vertretern der Industrie und Verbände der Emscher-Lippe-Region. Foto: Stepniak/RDN Agentur